Selbsteinschätzung statt Fremdbewertung

Am Ende der Primarschulzeit, also der sechsten Klasse, erfolgt an Schweizer Schulen die sogenannte Selektion: Schulkinder werden in verschiedene Leistungsniveaus eingeteilt, dies meistens aufgrund von Fremdbewertungen, sprich der Beurteilung durch Lehrpersonen mit deren Prüfungen. Die Noten bestimmen im Alter von 12/13 Jahren, ob Luca ins Gymi darf oder Anna in die Realschule kommt.

«Das ist eigentlich eine Katastrophe», sagt Thomas Minder, Präsident des Verbands der Schulleitenden in der Deutschschweiz. «Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo die Kinder in der Pubertät mit dem nahezu kompletten Umbau ihres Gehirns völlig durcheinander sind, werden sie dem Stress ausgesetzt, die Weichen für ihr ganzes Leben zu stellen.»(1) Hinzu kommt, «dass der gerechte Selektionsprozess keineswegs gerecht, sondern vielmehr pseudoobjektiv ist und der Steuerung der Anteile der Schüler:innen-Zahlen auf den verschiedenen Stufen dient»

Dazu gibt es verschiedene evidenzbasierte Erhebungen. Eine davon stammt von HfH-Professor Dr. Daniel Hofstetter. In einer Längsschnittstudie erhob er wertvolle Daten, die den Selektionsprozess infrage stellen. Hofstetter hatte zwei Deutschfreiburger Schulklassen während dreier Jahre (5.-7. Klasse) begleitet. In seinem Buch «Die schulische Selektion als soziale Praxis»(2) bietet er einen spannenden Einblick hinter die Kulissen schulischer Aushandlungs- und Selektionsprozesse und lädt dazu ein, vorschnelle Annahmen über ein vermeintlich «gerechtes» Übertrittsverfahren kritisch zu hinterfragen. Hofstetters Dissertation liefert einen fundierten Beitrag zur Debatte über den Anteil des Schulsystems bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit und über die Rolle der Lehrpersonen als selektionierende Akteurinnen und Akteure.

Studie zur Bildungsgerechtigkeit deckt auf (3)

Laut der von Allianz Chance+ unterstützten Studie des Beratungsunternehmens Oliver Wymann werden jedes Jahr bis zu 14’000 sozial benachteiligte Jugendliche nicht ihrem Potenzial entsprechend ausgebildet. Zentralen Einfluss auf den Bildungsverlauf von Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat der sozioökonomische Status der Eltern, und zwar auf jeder Bildungsstufe. Sozial selektive Muster zeigen sich vor allem beim Übertritt zur Sek 1 und zum Gymnasium: Bei gleicher Leistung schaffen ihn benachteiligte Jugendliche weniger häufig als privilegierte Mitschüler:innen. Die Weichen werden zu früh gestellt: Bereits beim Übertritt von der Primarschule in die Sek 1 beeinträchtigen strukturelle Hürden den Werdegang von Jugendlichen. Danach sind die Chancen gering, in ein höheres Schulniveau aufzusteigen.

Selektion als Mitverursacherin des Fachkräftemangels …

Gemäss der Studie entgeht der Schweizer Volkswirtschaft durch den nicht ausgeschöpften Talentpool jährlich Wertschöpfung von bis zu 30 Milliarden Franken. Bis 2035 fehlen der Schweizer Wirtschaft ca. 300’000 Fachkräfte. Das bisher ausgeschöpfte Talentpotenzial reiche nicht aus, den Bedarf an (hochqualifizierten) Fachkräften zu decken. Die Identifizierung und Förderung bisher vernachlässigter Talente sei deshalb für den Wirtschaftsstandort Schweiz unerlässlich.

… und als Verhinderin persönlicher Lebensziele

Der volkswirtschaftliche Aspekt allein ist schon Grund genug, das aktuelle System grundlegend zu hinterfragen. «Viel gewichtiger» so Schulleitendenpräsident Thomas Minder «ist das persönliche Schicksal jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers. Mit der zu frühen Einstufung trägt die Schule eine Mitschuld, dass Jugendliche nicht die erforderliche Zeit erhalten, ihre Talente zu entfalten und am Schluss der obligatorischen Schulzeit klar benennen können, wo ihre besonderen Fähigkeiten liegen und wo sie am besten gefördert werden können. Ein systemgemachtes Unglück, das Perspektiven killt, Hoffnungslosigkeit und Resignation bewirken kann!»

Der Königsweg: Selbsteinschätzung

Zum Schulglück gibt es heute neue Ansätze mit parallel zu führenden Leistungsniveaus in jeder Klasse, die darauf abzielen, dass die Kinder lernen, sich selbst einzuschätzen, was auch mehr Freude macht als Fremdbeurteilungen. Beispielhaft sei das Churer Modell (4). Thomas Minder dazu: «Natürlich stellt das die Lehrpersonen vor neue Herausforderungen. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass mit vereinten Kräften ein Systemwechsel vollzogen werden kann, der den Weg für eine chancenreife Zukunft ebnet. Werden Schülerinnen und Schüler befähigt, ihren eigenen Lernweg zu gestalten, werden sie dies als persönliche Leistung anerkennen: ein positiver Rückkoppelungseffekt auf ihren Lernerfolg.»

Thomas Minder live an Swissdidac

In seiner Keynote vom 23. November 2023 an der Bildungsmesse Swissdidac in Bern greift Thomas Minder das Thema Selektion auf. «Unsere Absicht, also das Ziel unseres Schulleitendenverbands, ist nicht, das Bildungssystem auf den Kopf zu stellen. Vielmehr wollen wir korrigierend eingreifen und vor allem eine Diskussion zwischen allen Schulverantwortlichen anstossen, die konstruktiv ist und Lösungen ergibt, von denen alle Leistungsträger:innen überzeugt sind. Nur so, gemeinsam, können wir dafür sorgen, dass kein Schulkind von Bord einer chancenreichen Zukunft fällt.»

(1) Em. Prof. Dr. Lutz Jänke, Neurologe, Psychologe

(2) Hofstetter Daniel (2017). Die schulische Selektion als soziale Praxis. Aushandlungen von Bildungsentscheidungen beim Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I. Weinheim: Beltz Juventa, 310 Seiten.

(3) Studie des Beratungsunternehmens Oliver Wyman Schweiz, unterstützt von der Allianz Chance+: «Bildungsgerechtigkeit – Chance für die Schweizer Wirtschaft», www.chanceplus.ch

(4) www.churermodell.ch

Informieren Sie sich über das spannende Weiterbildungsprogramm an der Swissdidac.

Swissdidac Bern
19. - 21. November 2025

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